Die Philosophie der wirklichen Beziehung
„Jede wirkliche Beziehung in der Welt ist ausschließlich, das Andere bricht in sie ein und rächt seine Ausschließung. Einzig in der Beziehung zu Gott sind unbedingte Ausschließlichkeit und unbedingte Einschliesslichkeit eins, darin das All begriffen ist.
Jede wirkliche Beziehung in der Welt ruht auf der Individuation; die ist ihre Wonne, denn nur so ist Einandererkennen der Verschiedenen gewährt, und ist ihre Grenze, denn so ist das vollkommne Erkennen und Erkanntwerden versagt. Aber in der vollkommnen Beziehung umfaßt mein Du mein Selbst, ohne es zu sein; mein eingeschränktes Erkennen geht in einem schrankenlosen Erkanntwerden auf.
Jede wirkliche Beziehung in der Welt vollzieht sich im Wechsel von Aktualität und Latenz, jedes geeinzelte Du muß sich zum Es verpuppen, um wieder neu sich zu beflügeln. In der reinen Beziehung aber ist die Latenz nur das Atemholen der Aktualität, darin das Du präsent bleibt. Das ewige Du ist es seinem Wesen nach; nur unser Wesen nötigt uns, es in die Eswelt und Esrede zu ziehen.
Die Eswelt hat Zusammenhang im Raum und in der Zeit.
Die Duwelt hat in beiden keinen Zusammenhang.
Sie hat ihren Zusammenhang in der Mitte, in der die verlängerten Linien der Beziehungen sich schneiden: im ewigen Du.
In dem grossen Privileg der reinen Beziehung sind die Privilegien der Eswelt aufgehoben. Kraft seiner gibt es das Kontinuum der Duwelt: die isolierten Momente der Beziehungen verbinden sich zu einem Weltleben der Verbundenheit.”
Buber, M. (1878-1965)
(2022). Ich und Du.
(19. Auflage). München: Gütersloh.