Ruhelose Nächte, Ängste und Isolation

[Citation] : Tanner, M., Riedo, S., Askew, M. & Spicher, C.J. (2020). Ruhelose Nächte, Ängste und Isolation. e-News Somatosens Rehab, 17(3), 89-91.

TANNER, M.[2], RIEDO, S. zert SST[3], ASKEW, M .zert SST[4] & SPICHER, C.J.[2]

Alle Anzeichen deuten auf eine Entzündung hin[5] : eine gerötete, geschwollene und erwärmte Hand - oder Fuss - mit einem brennenden, ja kochenden Gefühl im Innern des Gelenkes. Alle diese entsetzlichen Symptome lassen die Person am Morgen nach einer ruhelosen Nacht erschöpft aufwachen. An einem dreitägigen Treffen in Budapest diskutierten und bestimmten 38 ExpertInnen die genauen diagnostischen Kriterien für das komplexe regionale Schmerzsyndrom – Complex Regional Pain Syndrome (CRPS). NICHT unheilbar.

Um das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS) zu bestimmen, verwendet man eine Klassifikation, welche die Anzahl Symptome und klinische Zeichen definiert (Budapest - Kriterien). Es lohnt sich, dieses komplex anmutende Werkzeug einzusetzen. Den PatientInnen hilft es, sich ihre Schmerzsymptome zu vergegenwärtigen und sie zu benennen: „benennen heisst anerkennen und das tut gut.“ präzisiert Estelle Murray (E.M.), eine Patientin, die an dieser Doppelerkrankung gelitten hat.

Nebst den Hauptsymptomen dieses Schmerzsyndroms - dem kochenden Gefühl in einem Gelenk, den ruhelosen Nächten und dem Steifheitsgefühl in einem Gelenk - kommt es zu einer Überempfindlichkeit, bei der bereits die Berührung mit einem Zeitungspapier oder ein leichter Windhauch als schmerzhaft empfunden werden. Bei der Schmerzzunahme durch eine persistierende Berührung (Allodynie oder buchstäblich einem „weiteren Schmerz“) handelt es sich um eine zweite Erkrankung, welche eine eigene Behandlung benötigt.

Linderung durch mögliche Hoffnung
Das somatosensorische Rehazentrum in Freiburg (Schweiz) wurde gegründet damit PatientInnen, die durch ein CRPSyndrom gemäss den Budapest-Kriterien geplagt werden, eine alternative Therapiemethode angeboten werden kann. Das Syndrom beunruhigt vor allem durch die als wechselhaft empfundene Gelenksteife, welche mit den Empfindungen von Kochen/Glühen/Kälte/Eiseskälte einhergeht. Die Steife löst Angst aus, weil sie sich durch Bewegung und Aktivität bei 98% der PatientInnen - entgegen der verbreiteten Meinung - verschlimmert, anstatt sich, wie erwartet, zu verbessern. Und so werden die Nächte durch wiederholtes Aufwachen von einer dunklen, bedrückenden, verzweifelten, grübelnden Atmosphäre geprägt – Thanatos treibt sich herum – und hinterlassen die betroffenen Personen am frühen Morgen müder und erschöpfter als am Tag zuvor. Um mit den Symptomen besser umgehen zu können, ist es für die PatientInnen wichtig ihre Schlafqualität und - quantität mit Hilfe eines Schlafmittels und/ oder eines Mittagsschlafes (20 bis 90 Min.) zu verbessern.

Im Rahmen der Rehabilitation dieses Syndroms spielt daher die Verordnung von Aktivitäten eine zentrale Rolle:
1) Das Einschränken der Bewegung der vom CRPSyndrom betroffenen Region bzw. Gelenk;
2) Die Aufforderung, die betroffene, empfindliche Region möglichst nicht zu berühren. Dies muss unter der Anleitung und Begleitung durch eine zertifizierte Somatosensorische SchmerzTherapeutin (zert. SST)[6] geschehen. Auch wenn es erstauen mag - Aktivität und zu energische Mobilisation verstärken das Syndrom.

„Das grosse Flüstern der Hoffnung kommt von weit her. Es hat schon einen langen Weg hinter sich, seine Schuhe sind abgenutzt. Es entfachte das Feuer, indem es sanft auf die durch die Zeit verblasste Glut blies.“ E.M.

Sinnlose Schmerzen: wenn Zeit ihre Dimension verliert
Das CRPS (n=435) kann sechs verschiedene Regionen betreffen (nach Häufigkeit des Vorkommens): Fuss (47 %), Hand (35 %), Knie (10 %), Schulter (5 %), Ellbogen (2 %) und Hüfte (1 %). Für die meisten PatientInnen wird die Krankheit durch eine persistierende Berührungsüberempfindlichkeit, einer Allodynie, verdoppelt. Sie beklagen sich über Schmerzen, die weit über ein betroffenes Gelenk hinaus ausstrahlen. Ihre Beschwerden scheinen überall zu sein. Die Beschreibungen ihrer Schmerzen springen in alle Richtungen. Dies kann bei den zuständigen TherapeutInnen (nicht immer sehr professionell) eine mangelnde Aufrichtigkeit von Seiten des Patienten auslösen und somit die mögliche Basis für einen Dialog gefährden.

In der klinischen Praxis konnten wir beobachten, dass bei PatientInnen mit Schmerzen von zu starker Intensität psychopathologische Belastungen auftreten: sie werden entweder wortkarg oder äusserst redebedürftig. Mit PatientInnen umzugehen, welche an Fragmentierungs-, Trennungs- oder Todesängsten leiden, erfordert Einfühlungsvermögen. Es erfordert die Fähigkeit zu unterscheiden und zu trennen und besteht darin, mit einer gegebenen Situation umzugehen: wie sie ist und nicht wie man sie gerne haben möchte. Weiter ist zu beachten, dass die Ängste oft durch das medizinische Personal mit der Prognose „unheilbar“ geschürt werden - und das zu Unrecht.

„ Schmerzen sind eine somästhetische (soma ≡ Körper) UND eine semantische (sêma ≡ Sinn) Erfahrung; beide zusammen, nicht eine ohne die andere. “

Schmerzen sind ein Geschenk, welches niemand haben will. Gefangen auf der Insel des eisigen Schmerzes, im dichten Nebel des Unbeschreiblichen und des schwierig zu benennendem Wandel. Schmerzen verhindern auf das Gegenüber zuzugehen. Nach sechs Monaten der Isolation wird diese zu einer der Ursachen dieser Schmerzen und als lebenslängliche Haftstrafe empfunden.

Die Unmittelbarkeit im ständigen Blitzlichtgewitter
Wenn der Schleier endlich weggezogen wird, ist dies der geeignete Moment, die bleierne Routine unseres getakteten, therapeutischen Prozesses zu unterbrechen und die tiefgründige Andersartigkeit des Gegenübers zu erfassen. Sinn geben ohne Widerspruch, denn der Sinn bleibt eine singuläre und NICHT plurale Angelegenheit.


[2] Somatosensorisches Rehazentrum, Hans-Geiler-Str., 6; CH-1700 Freiburg
[3] Handrehabilitation, Handchirurgie und Chirurgie der peripheren Nerven, Inselspital, Bern
[4] Ergotherapie – Praxis, Zollikofen
[5] Man spricht von einer Pseudoentzündung, da die klinischen Zeichen der Entzündung negativ sind.
[6] Aus Gründen der Gleichberechtigung schreiben wir diesen Titel in der weiblichen Form. Die meisten Therapeutinnen in der somatosensorischen Rehabilitation sind Frauen.

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